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Tatort Henstedt-Ulzburg

Solidaritätsaufruf der Kampagne Tatort Henstedt-Ulzburg

Am 17. Oktober 2020 machte der rechte Täter Melvin Schwede am Rande einer Parteiveranstaltung der „Alternative für Deutschland“ (AfD) im Bürgerhaus Henstedt-Ulzburg mit seinem Pick-Up-Wagen gezielt Jagd auf antifaschistische Gegendemonstrant*innen. Er nahm dabei den Tod von Menschen billigend in Kauf und verletzte vier Personen zum Teil schwer. Die Betroffenen der Auto-Attacke sind deshalb bis heute in ärztlicher Behandlung. Ein Betroffener kann seiner beruflichen Tätigkeit nicht mehr nachgehen. Nachdem Polizei und mehrheitlich auch die Medien die Tat zunächst als Auto-Unfall verharmlost und entpolitisiert hatten, konnten antifaschistische Recherchen Melvin Schwede als rechten Gesinnungstäter mit Verbindungen zu örtlichen AfD-Funktionären und neofaschistischen Strukturen entlarven und dazu beitragen, dass die Staatsanwaltschaft schließlich ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Totschlags aufgenommen hat. Dessen Hauptverhandlung ist mittlerweile eröffnet worden, was bedeutet, dass der Beginn des Prozess gegen den Täter vor dem Landgericht in Kiel in den kommenden Monaten zu erwarten ist. Wir rufen aus diesem Anlass alle Antifaschist*innen dazu auf, während des Prozesses solidarisch an der Seite der Betroffenen des faschistisch und rassistisch – bei einer der verletzen Genoss*innen handelt es sich um eine Schwarze Frau – motivierten Angriffs zu stehen und die Tat als das zu benennen, was sie war: Ein weiterer Akt in der langen und vielseitigen Geschichte rechten Terrors in Deutschland, der allein seit 1990 mindestens 218 Todesopfer gefordert hat.

Alles Einzeltäter oder was?

Melvin Schwede, zum Tatzeitpunkt gerade einmal 19 Jahre alt, kommt aus einem kleinen Örtchen im Kreis Segeberg und kann auf den ersten Blick als normaler junger Mann wahrgenommen werden. Dass zu dieser Normalität eben auch gehören kann, eine gefestigte rechte Gesinnung mit all ihren Feindbildern herauszubilden, sich an faschistischen Konsumwelten zu bedienen und im rechten Milieu vernetzt zu sein, dafür steht er exemplarisch. Er entstammt jener Mitte der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft, die rassistische Hetze, stumpfen Nationalismus, Männlichkeitsgehabe und Hass auf Linke nur allzu oft duldet oder sogar selbst kultiviert. Schwede hielt vor seiner Tat mit seiner Gesinnung nicht hinterm Berg, hörte neofaschistische Musik und folgte offen rechten Medien und Organisationen. Er war in seinem Umfeld dennoch kein isolierter Außenseiter. Die AfD ist einer seiner politischen Bezugspunkte und er pflegte Kontakte z.B. zu ihrem Kreistagsabgeordneten Julian Flak, zuletzt Platz 4 der AfD-Landesliste, der sich noch unmittelbar nach der Tat für ihn einsetzte und öffentlich Täter-Opfer-Umkehr betrieb. Schwede trieb sich am 17.10.2020 genauso wenig zufällig am Rande der Veranstaltung mit dem damaligen AfD-Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen im Bürgerhaus Henstedt-Ulzburg herum, wie er anschließend Jagd auf Antifas machte.

Dass Rechte ihr Auto als Waffe einsetzen ist keine Seltenheit. Weltweite Aufmerksamkeit erfuhr etwa der Mord an der Antifaschistin Heather Heyer, die im August 2017 im US-amerkanischen Charlottesville ebenfalls am Rande einer Demonstration von einem weißen Suprematisten überfahren wurde. Rechter Terror hat mittlerweile viele Gesichter: Er kann, wie der „NSU“, dem organisierten Neonazismus entspringen und sich als gut vernetzte bewaffnete Zelle formieren. Er kann sich, wie die Attentäter von Oslo/Utøya, Halle oder Hanau, weitestgehend ohne gefestigte persönliche Kontakte in rechte Milieus über Internet-Chats herausbilden und gegenseitig befeuern. Oder, dazu quer liegend, kann er von eher unscheinbaren Randfiguren der Szene erledigt werden, die den Hetzparolen und menschenhassenden Pamphleten der Faschist*innen Folge leisten und selbst zur Tat schreiten. Dazu braucht es noch nicht einmal Zugang zu Waffen, im Zweifelsfall tut es eben auch ein Alltagsgegenstand wie das Auto.

Ihnen allen ist jedoch gemein, dass sie der Wahnvorstellung anhängen, mit Gewalt eine in die Krise geratene Welt retten zu müssen, die von weißen christlichen Hetero-Männern dominiert und beherrscht wird. Ihre Feindbilder sind je nach Zusammensetzung der jeweiligen Ideologiefragmente austauschbar und doch immer dieselben: People of Colour, Muslime*a, Juden*Jüdinnen, Queers, Feminist*innen und natürlich Linke. Sie alle können ins Visier der bewaffneten Verteidiger(*innen) des Abendlandes geraten, so wie die Betroffenen von Henstedt-Ulzburg vor die Motorhaube von Melvin Schwede. Das (auch willkürliche) Töten gehört dabei zum Konzept, um Angst zu verbreiten. Das nennt man gemeinhin Terror. Und dieser Terror wird eben nicht, wie so oft behauptet, von Einzeltätern verübt, die aus dem Nichts heraus zur Tat schreiten. All die Täter der letzte Jahre und auch die, die es noch werden, sind von neofaschistischen Bewegungen und Ideologien mindestens geprägt, die nicht erst durch klandestine Treffen von Ultrarechten ihre Gefahr entfalten, sondern oft ganz einfach digital Präsenz entfachen und immer mehr Anhänger finden. Durch die gezielte Verbreitung rechter Hetze, beispielsweise über virtuelle Meme-Bilder, wird eine lose, aber dennoch bindende Community geschaffen, aus der heraus in den letzten Jahren zahlreiche rechte Anschläge begangen worden sind. Sie mögen bei der Tat zwar allein gewesen sein – der Wille zur Tat und die Ideologien dahinter sind jedoch aus einer organisierten Bewegung heraus entstanden, die immer wieder rechten Terror hervorbringt.

Die AfD und der rechte Terror

Die AfD hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt als die wichtigste politische Kraft der Rechten in der BRD etabliert. Sie agiert vor allem parlamentarisch, ist aber auch überall dort nicht weit, wo sich die Wut der Mehrheitsgesellschaft in reaktionäre Bewegungen wie Pegida oder Querdenken und dazugehörigen Kommentarspalten kanalisiert. Sie ist sowohl Stichwortgeberin und politische Heimat, als auch Stimme derjenigen, die in krisenhafte Zeiten nach unsolidarischen und chauvinistischen Scheinlösungen eifern. Sie gießt die selben rechten Wahnvorstellungen, die die Protagonist(*innen) des rechten Terrors antreibt, in ein politisches Programm, das den gezügelten Ansprüchen des bürgerlichen Parlamentarismus genügt. Und während AfD-Abgeordnete im Bundestag mal mehr, mal weniger sachlich vom Rednerpult hetzen und vom Straßenrand in Sachsen oder Kaltenkirchen der entbrannte Wutbürger keift, fühlen sich andere bemüßigt, dem selben Rassismus, Nationalismus, Anti-Feminismus und Chauvinismus etwas mehr Nachdruck zu verleihen. Melvin Schwede ist nicht der erste AfD-Sympathisant, der zum Terror übergegangen ist und die zahlreichen Querverbindungen der Partei sind kein Zufall. Wir erinnern uns z.B. an den Mord an einem jungen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein vor einem Jahr und den an Walter Lübcke im Jahr 2019. Genauso mussten wir wiederholt beobachten, dass die schleswig-holsteinische AfD ihre Parteiveranstaltungen regelmäßig durch Thorsten Kempf und Ralph Eitelbach beschützen lässt, zwei Neonazis, die in Verbindung mit der rechtsterroristischen „Gruppe S“ gestanden haben.

Henstedt-Ulzburger Zustände

Das Bürgerhaus von Henstedt-Ulzburg ist nicht nur der Tatort der Auto-Attacke vom Oktober 2020, sondern seit Jahren der wichtigste Versammlungsort der AfD in Schleswig-Holstein und mittlerweile sogar auch aus Hamburg. Hier finden regelmäßig ihre Landesparteitage genauso statt, wie Veranstaltungen mit Parteipromis aus der Bundespolitik, die ihnen in dieser Größenordnung in vielen Regionen Schleswig-Holsteins nicht zuletzt dank antifaschistischer Interventionen mittlerweile versagt sind. Nun handelt es sich beim Bürgerhaus jedoch nicht etwa um eine parteieigene Immobilie, wo ein Einschreiten gegen die AfD-Umtriebe sich grundsätzlich schwierig gestalten würde, sondern es ist in kommunalem Besitz und Verwaltung der Gemeinde Henstedt-Ulzburg. Politisch verantwortlich dafür, die AfD sogar auch nach dem Anschlag noch herzlich willkommen in ihren Räumlichkeiten zu heißen, ist also die CDU-dominierte Gemeindevertretung, was einen weiteren Skandal im unrühmlichen Fall Henstedt-Ulzburg darstellt. Obgleich es seit Jahren lokale Proteste gegen die Vermietung des Bürgerhauses an die Rechten gibt und unzählige Kommunen es längst vorgemacht haben, wie man ein Hausverbot für die AfD auch gegen bürokratische Hürden durchsetzen könnte, entziehen sich die politischen Amtsträger*innen ihrer Verantwortung. Stattdessen werden Antifaschist*innen im Ort der Nestbeschmutzung beschuldigt, wenn sie auf diesen untragbaren Zustand hinweisen.

Für uns ist jedoch klar, dass nicht nur eine Mitschuld an der Normalisierung des Faschismus trägt, wer selber hetzt oder aufs Gaspedal drückt, sondern auch, wer diesen Leuten Räume gibt und sie als legitime politische Kraft verharmlost. Henstedt-Ulzburg hat sich dadurch längst zum Knotenpunkt rechter Strukturen in Schleswig-Holstein entwickelt und ist in mehrfacher Hinsicht zum Tatort geworden. Unsere Solidarität mit den Betroffenen der Auto-Attacke bedeutet also auch, dass wir hierzu nicht länger schweigen und verstärkt gegen die Hofierung der AfD im Bürgerhaus durch die Lokalpolitik vorgehen müssen.

Unsere Solidarität gegen ihre Gewalt

Rechte Gewalt hat schwerwiegende Folgen, auch wenn sie nicht tödlich ist. Sie kann körperliche Langzeitschäden nach sich ziehen, aber vor allem wirkt sie psychisch. Sie soll den Betroffenen und ihren Milieus Angst machen und sie davon abhalten, so zu sein, wie sie sind und für ihre Rechte oder gesellschaftliche Emanzipation einzustehen. Am Tatort Henstedt-Ulzburg ging es dem Täter darum, Antifaschist*innen nachhaltig daran zu hindern, weiter auf der Straße gegen die Etablierung der zunehmend faschistischen AfD vorzugehen. Es hätte prinzipiell jede*n von uns treffen können. Nicht nur deshalb ist es unsere Pflicht, unsere angegriffenen und verletzten Genoss*innen mit den langjährigen Nachklängen des Tages nicht allein zu lassen. Dass für Betroffene und Angehörige weder Polizei und staatliche Institutionen, noch die etablierte Politik dazu verlässlich in der Lage sind, haben auch die unmittelbaren Reaktionen auf die Tat in Henstedt-Ulzburg mal wieder verdeutlicht. Und viel mehr noch: Sie sind ein maßgeblicher Teil des Problems.

Wenn der Prozess beginnt, werden die Erinnerungen an das Geschehene einmal mehr aufgewühlt. Wir rufen deshalb dazu auf, den Prozess gegen den Täter in Solidarität mit den Betroffenen zu begleiten, vor und im Gerichtssaal und darüber hinaus. Niemand wird allein gelassen!

Darüber hinaus werden wir nicht zulassen, dass die Tat als Verkehrsunfall oder anderweitig bagatellisiert wird und immer wieder laut sagen, dass es sich bei der Auto-Attacke ohne Wenn und Aber um einen Akt rechten Terrors gehandelt hat, wie er in diesem Land eine unerträgliche Kontinuität hat. Der AfD, ihren Fans und allen anderen Faschist*innen werden wir klar machen, dass ihre Strategie der Einschüchterung nicht aufgeht. Wir stehen zusammen und werden auch weiterhin gegen rechte Umtriebe aller Art vorgehen, auch dies sind wir nicht zuletzt den Betroffenen von Henstedt-Ulzburg und allen anderen Tatorten rechter Gewalt schuldig. Achtet auf Ankündigungen, unterstützt die antifaschistischen Begleitaktionen zum anstehenden Prozess und zeigt Euch auf vielfältige Weise solidarisch mit den Betroffenen.

Lasst die Betroffenen der Auto-Attacke in Henstedt-Ulzburg nicht allein – begleitet sie beim anstehenden Prozess!
Kein Fußbreit der AfD – kein Fußbreit dem Faschismus – weder in Henstedt-Ulzburg, im Gerichtssaal, noch sonstwo!