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Tatort Henstedt-Ulzburg

Beitrag einer Betroffenen des rechten und rassistischen Anschlags

„Vorab: Ich spreche hier nur für mich und aus meiner eigenen Sicht, für keinen anderen der Betroffenen.

990 Tage. 32 Monate und 16 Tage oder 2 Jahre und 259 Tage ist es nun her, dass Melvin S. mich mit seinem VW Amarok gejagt und umgefahren hat.

Was medial nie wirklich benannt geworden ist: Ich wurde nicht einfach nur umgefahren, ich wurde mit dem Auto verfolgt und schlussendlich umgefahren. Ich bin wortwörtlich in Todesangst um mein Leben gerannt, als Melvin S. dieses riesige Auto auf mich zugesteuert hat und mich mehrere Meter damit gejagt hat.

Um das Ausmaß zu verdeutlichen, hierbei handelt es sich um einen Pick-up, welcher um die 3,5 Tonnen wiegt – um das einordnen zu können, ein normaler VW Golf wiegt zwischen 1,2 und 1,5 Tonnen.

Ich werde nun die ersten medialen Darstellungen zu dieser Zeit aufgreifen:

1. „Versammlungsgeschehen vor dem Bürgerhaus – Bilanz der Polizei“: „Demonstranten der rechten und linken Szene gerieten außerhalb des Veranstaltungsgeländes aneinander. Dabei wurde im Rahmen eines Verkehrsunfalls eine Person der linken Szene schwer verletzt und in ein Krankenhaus eingeliefert. […] Der Vorfall ist der Staatsanwaltschaft in Kiel vorgetragen worden, demnach ermittelt die Polizei gemeinsam mit einem Unfallsachverständigen gegen den Unfallfahrer wegen der Straftat „Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“. Der Beschuldigte ist nach einer ersten Befragung auf der Dienststelle wieder entlassen worden.“ – Presseportal Polizeidirektion Bad Segeberg am 17.10.2020 um 20:31 Uhr.

2. „“Zwischenfall“ nach Demo gegen AfD in Henstedt-Ulzburg“ – Norddeutscher Rundfunk am 18.10.2020 um 12:28 Uhr.

3. „Fahrer wollte Demonstranten offenbar nur erschrecken – Davon gehen die Ermittler des Staatsschutzes aus. 19-Jähriger war mit einem Auto in eine Menschengruppe gefahren und hatte vier Personen verletzt“: „Der Fahrer des Pick-ups, der am Sonnabend in Henstedt-Ulzburg mehrere Menschen angefahren hat, wollte seine Opfer offenbar nur erschrecken. Davon sind mittlerweile die Ermittler des Staatsschutzkommissariats überzeugt, die den Fall untersuchen. Der Fahrer fuhr an der Beckersbergstraße zwar mit Absicht, aber langsam auf die vier Personen zu, von denen drei verletzt wurden. Für diese These spricht, dass die Verletzungen nicht schwerwiegend sind. Endgültig ausgeschlossen scheint mittlerweile die Variante zu sein, dass es sich um einen Unfall handelte. Aber auch ein Anschlag kommt als Tatmotiv nun kaum noch infrage. – Hamburger Abendblatt am 22.10.2020 um 16:53 Uhr.

4. „In Menschengruppe gefahren: Polizei ermittelte gegen Teenager – Zu möglichen Verbindungen des 18-Jährigen ins rechtsextreme Milieu wollte sich die Staatsanwaltschaft nicht äußern“ – Hamburger Abendblatt am 07.12.2020 um 16:53 Uhr.

Das ist nur ein Bruchteil der Auszüge aus den Medien, der wahrscheinlich für alle Genoss:Innen, an dem Tag vor Ort Gewesenen und Augenzeug:Innen für Entsetzen gesorgt hat.

Ich habe diese Nachrichten kontinuierlich verfolgt und immer wieder den Browser aktualisiert, während ich zuhause war, nicht richtig laufen konnte und bei jeder Bewegung vor Schmerzen geschrien habe. Mein damaliger Freund mir die Haare kämmen musste, mir Essen bringen musste, nachts alle halbe Stunde aufstehen musste, um mich im Bett umzudrehen, weil ich das selber nicht konnte. Während ich, als damals 21-Jährige, heute wie damals Schwarze Frau und eine der Betroffenen, von den Medien weder korrekt benannt, noch richtig gegendert wurde – wurde ich nur als „Schwerverletzter Antifaschist“ bezeichnet. Melvin S., zur Tatzeit übrigens ca. 2 Wochen vor seinem 20 Geburtstag, wurde als „Teenager“ und lediglich „Unfallverursacher“ bezeichnet. Dass ich das anmerke, mag für einige albern klingen – aber genau das zeigt die herrschenden Strukturen und die Unterschiede, die hier gemacht wurden, auf.

Die AfD rundum Julian Flak, den stellvertretenden Landesvorsitzenden der AfD in Schleswig-Holstein – welcher zu dem Zeitpunkt Melvin S. auf Instagram abonniert hatte – dieser war übrigens zu der Zeit auch Mitglied der AfD Schleswig-Holstein – und Melvin S. hatte ihn ebenfalls abonniert. Julian Flak ist natürlich mit Handkuss auf diesen Zug aufgesprungen und hat die AfD–übliche Täter-Opfer-Umkehr genutzt und kurz nach dem Anschlag Flyer in Henstedt-Ulzburg unter der Überschrift „Den Brandstiftern das Handwerk legen-Antifa Verbot jetzt“ verteilt. Herr Flak: Wie kann ich Brandstifterin sein, wenn ich Opfer war? Wie kann ich Brandstifterin sein, wenn ich vor dem Auto um mein Leben gerannt bin? Bin ich Brandstifterin, weil ich existiere?

Es hat über 8 Monate gedauert, bis medial über die Anklage berichtet wurde und nun nicht mehr von Unfällen und Erschrecken gesprochen wurde. Es wurde als das benannt, was es ist – Melvin S. wird nun angeklagt des versuchten Totschlags, in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr und gefährlicher Körperverletzung.

Heute, über 2 Jahre später, stehen wir nun gemeinsam hier und ich möchte diese Möglichkeit – keine Stunde vor Prozesseröffnung – nutzen, um zu sagen:

Es hat mich nicht nur als Antifaschistin getroffen, es hat mich in erster Linie als die Schwarze Frau getroffen, die hier steht.

Denn ich hatte nie das Privileg, unpolitisch sein zu können. Ich habe keinen „Antifa forever Pullover“, den ich einfach ausziehen kann, wenn ich mir mal einen Tag gönnen will, an dem ich mich nicht auf Politik konzentrieren möchte.

Der Anschlag hat mich wahnsinnig starke körperliche Schmerzen über einen langen Zeitraum gekostet. Der Anschlag hat mich schwerste mentale Kämpfe gekostet. Der Anschlag hat mir für fast 3 Jahre meine politische Stimme geraubt, aber heute stehe ich wieder hier und möchte zum Ende meines Beitrages und zu Beginn des Prozesses mich bei all denjenigen bedanken, die dafür gesorgt haben, dass dieser Anschlag nicht in Vergessenheit gerät und als das wahrgenommen wird, was er war.“

– Kiel, den 3. Juli 2023